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Privatheit und Digitalität – Teil 1

Einleitung

Der vorliegende Beitrag wendet sich dem ambivalenten Zusammenspiel von Privatheit und Digitalität zu, indem er deren Relevanz für Diskurse und Praktiken der Selbstbestimmung ausleuchtet und auf die soziotechnischen Transformationen dieses Zusammenspiels bezieht. Er bedient sich hierfür soziologischer Mittel der theoretischen Perspektivierung ebenso wie der fallbezogenen empirischen Analyse. Das bedeutet zunächst, dass Privatheit und Digitalität nicht als außersoziale Gegenstandsbereiche verstanden werden – etwa als von der Gesellschaft losgelöste Sphäre des Privatlebens bzw. als rein technisch dominierte Interaktivität von Bits and Bytes –, sondern als spezifische Sozialformen, Assemblagen oder Kommunikationsverhältnisse, die gesellschaftlich mitkonstituiert oder konfiguriert, d. h. etwa von historisch sich wandelnden kulturellen Bedeutungsschichten, sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnissen sowie normativen Regelkomplexen und Konventionen der Gesellschaft durchzogen sind.

In diesem Sinne sollen hier in einem ersten Schritt die umfangreichen Wissensbestände der soziologischen Gesellschaftstheorie konsultiert werden, um nach sozialen Aspekten von Privatheit und Digitalität zu fahnden und diese in die Analyse von Selbstbestimmungspraktiken und -diskursen einzubeziehen. Hierzu wird zunächst im zweiten Abschnitt eine kursorische Darstellung gesellschaftstheoretischer Perspektiven auf Privatheit vorgenommen, die nicht auf Vollständigkeit zielt, sondern darauf, die sozialen Aspekte von Privatheit in ihrer Breite und Relevanz vor Augen zu führen (2.1). Im zweiten Schritt ist der mögliche Bias einer solchen Perspektivierung und Konzeptualisierung von Privatheit zu berücksichtigen: Die fachinternen Diskussionen und Revisionen, die das soziologische Denken durch die Hinwendung zu Phänomenen der Digitalität herausfordern und mit neuen An- und Einsichten konfrontieren, lassen auch die Konzeptualisierung von Privatheit nicht unberührt; vielmehr gilt es zu reflektieren, inwiefern das soziologische Bild von Privatheit in dem Maße korrigiert werden muss, in dem soziotechnische Formen und Muster der Digitalität das Soziale insgesamt in neuem Licht erscheinen lassen und klassische Denkwerkzeuge der Soziologie durch Aspekte des Technischen und Materiellen ergänzen. Der Wandel der technisch-medialen Kommunikationssubstrate von ‚oraler‘ bis ‚digitaler‘ Vergesellschaftungsweise lässt auch die sozial strukturierte Privatheit nicht unbeeinflusst. Doch ist dieser technisch-materielle Aspekt des Privaten in sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierungen von Privatheit hinreichend berücksichtigt worden? Die Behandlung dieser Frage rundet die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Privatheit und Digitalität ab und mündet in dem Vorschlag, beide mit Theoriemitteln zu konzeptualisieren und aufeinander zu beziehen, die sich Impulsen der science and technology studies (STS) verdanken (2.2).

Mit einer solchen theoretischen Voreinstellung der Analyse des Verhältnisses von Privatheit und Digitalität wird eine fundiertere Analyse von Diskursen und Praktiken der Selbstbestimmung unter den veränderten soziodigitalen Verhältnissen der Gegenwartsgesellschaft möglich. Diese soll exemplarisch an vier zentralen Problemfeldern von Privatheit und Digitalität vorgenommen werden: Vor dem Hintergrund soziologischer Zeitdiagnosen zu den Transformationsdynamiken digitaler Vergesellschaftung und deren Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Status und die gesellschaftlichen Strukturbedingungen von Privatheit wird im dritten Abschnitt zunächst herausgearbeitet, wie zeitgenössische Vergesellschaftungsformen Sichtbarkeit prämieren und dadurch ein Verhalten evozieren, das die Möglichkeiten datenverarbeitender Erfassung stark erweitert (3.1). Der nachfolgende Abschnitt diskutiert sodann, welche Konsequenzen für Privatheit sich aus den Potentialen der Verhaltensformung ergeben, die mit der Gestaltung soziodigitaler Infrastrukturen seitens der Architektinnen komplexer digitaler Dienste, sozialer Netzwerke und Plattformen einhergehen (3.2). Anschließend wird erörtert, inwiefern die gegenwärtigen Erlösmodelle der Datenökonomie von datenintensiven Subjektivierungspraktiken abhängig sind. Die Vermutung ist hier, dass durch ökonomischen Verwertungsdruck die Verknüpfungen zwischen datenbasierter Verhaltensbeeinflussung und digitaler Selbstoffenbarung immer feinmaschiger werden und sich selbstverstärkende Feedbackschleifen etablieren (3.3). Der vierte Abschnitt argumentiert dann, dass diese Transformationsdynamiken die Entscheidungsfreiheiten von Nutzenden unterminieren und damit hergebrachte Selbstbestimmungskonzepte massiv unter Druck setzen. An dieser degenerativen Transformation der demokratischen Grundidee der Selbstbestimmung soll schließlich die ambivalente Entwicklung von Privatheit und Digitalität zusammengefasst werden (3.4).

Im Fazit des Beitrags werden Konsequenzen für eine soziotechnische Gestaltung von Privatheit, die an demokratischen Grundideen der Selbstbestimmung explizit und umfassend orientiert bleiben will, aufgezeigt (4). Die zentrale Frage ist hierbei, ob und gegebenenfalls wie sich eine digitale Form der Privatheit (er)finden lässt, die eine normativ anspruchsvolle soziotechnische Übersetzung und Erneuerung der demokratischen Selbstbestimmungsidee ermöglicht. Dies betrifft etwa die Frage, wie sich am Back-End digitaler Dienste Bedingungen verankern lassen, die trotz datenintensiver Sozialpraktiken Formen der Privatheit garantieren können. Hier lässt sich teilweise auf ältere soziologische Theorien der Privatheit zurückgreifen, die das Wechselspiel von Privatheit, Vertrauen und Zivilität als Gelingensbedingungen stabiler Sozialbeziehungen bereits an früheren Epochen thematisiert oder kreative Praktiken der Aneignung von technischen oder staatlichen Infrastrukturen fokussiert haben, welche deren Kontrollpotentiale zu unterlaufen vermögen. Im Ergebnis zeigt sich ein erheblicher Bedarf an einer Politik der Gestaltung und Regulierung von soziodigitalen Infrastrukturen, die solche Freiräume nicht nur weiterhin erhält, sondern zudem eine andere Datenökonomie ermöglicht und fördert, die sich der demokratischen Kontrolle, Mitbestimmung und vor allem sorgfältiger Kritik konsequent öffnet, anstatt die erkämpften Spielräume der Selbstbestimmung durch neue Finten latenter Verhaltensformung zu unterlaufen.

Zur soziologischen Perspektivierung von Privatheit und Digitalität

2.1 Privatheit in der Sozial- und Gesellschaftstheorie

Dass Privatheit keine Privatangelegenheit, sondern durch und durch sozial und gesellschaftsgeschichtlich figuriert ist, ist eine Grundeinsicht soziologischer Perspektivierungen. So sind etwa die Bedeutungszunahme von Individualität als Bezugsgröße für Lebenssinn und -orientierung, die Rätsel und Geheimnisse subjektiver Erlebnis- und Innenwelten, die Abgrenzung von Territorien für verletzliche Körper und ihre intimen Verrichtungen, das Verleihen von liberalen Abwehrrechten gegenüber dem Staat oder das Mischungsverhältnis von Prominenz und Zurückgezogenheit vieler Personen von sozialen Beziehungsgefügen, kulturellem Wandel, geografischer Lage und politisch-rechtlichen Kämpfen abhängig und variieren mit diesen stark. Privatheit bleibt selbst dort noch eine gesellschaftliche Institution, wo sie sich inhaltlich ganz auf das singuläre Individuum bezieht und dessen Unabhängigkeit zu sichern verspricht. Ein solcher radikaler Bezug auf das Individuum ist dabei jedoch weder in normativer Hinsicht noch in geschichtlicher oder kultureller Perspektive notwendig oder plausibel – auch wenn er sowohl in öffentlich-medialen als auch vielen wissenschaftlichen Konzeptualisierungen oft spontan zugrunde gelegt wird. Nicht nur finden sich in der Forschungslandschaft wichtige Privatheitskonzepte, die auf die Privatheit von Kollektiven abstellen, etwa Blousteins Konzept der „group privacy“; vielmehr erweist sich eine allzu enge definitorische Verknüpfung von Privatheit mit dem Individuum gerade vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren beobachtbaren soziotechnischen Vernetzungsprozesse als immer weniger plausibel. Ein Verständnis von Privatheit, das Individuen in einem (und sei es auch nur teilweise) „gesellschaftsfreien Raum“ verortet, evoziert folglich grundfalsche Assoziationen.

Privatheit, bürgerliche Individualität oder subjektive Autonomie sind demnach soziale Konstruktionen – nicht im Sinne bloßer Erfindungen, denen eine soziale Wirklichkeit gegenübersteht, sondern im Sinne realitätsgestaltender sozialer Konzepte und Materialisierungen. Um Aspekte dieser sozialen Konstruktion freizulegen – insbesondere mit Blick auf die durch digitale Technologien herausgeforderte informationelle Privatheit –, werden im Folgenden kursorisch einige wichtige Perspektiven der Sozial- und Gesellschaftstheorie auf Privatheit vorgestellt. Ein Seitenblick gilt dabei der Frage, inwiefern diese Theorien die materiellen und infrastrukturellen Aspekte der Hervorbringung und Institutionalisierung von Privatheit berücksichtigen oder aber theoretische Horizonterweiterungen erforderlich sind, um das soziotechnische Zusammenspiel von Privatheit und Digitalität angemessen untersuchen zu können.

Ein erstes Beispiel für die Verankerung des Privaten in einer gesellschaftlichen Ordnungsstruktur liefert bereits der Blick auf die griechische Antike. So führt Hannah Arendt die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem auf den Unterschied zwischen oikos und polis zurück: Ersteres bezeichnet den unveräußerlichen Stammsitz des patriarchal beherrschten Familienklans einschließlich der Sklaven und damit eine gleichzeitig räumlich, eigentumsmäßig und familiär zu verstehende Privatsphäre, die als Reich des Notwendigen sowohl der wirtschaftlichen als auch biologischen Reproduktion dient. Wirtschaftlicher Wohlstand wird gleichwohl nicht um seiner selbst willen angestrebt, sondern weil die Befreiung von der Notwendigkeit als Voraussetzung für Freiheit schlechthin gilt, die die Möglichkeit voraussetzt, in der polis, der politischen Öffentlichkeit des Stadtstaats, zu agieren. Während Arendt somit die öffentliche Sphäre als maßgeblichen Handlungsbereich der griechischen Stadtkultur der Antike in Anschlag bringt, charakterisiert sie die beiden Sphären doch als sich wechselseitig bedingend. Ein solches, auf dichotome Sphärenunterscheidung abstellendes Verständnis von öffentlich und privat hat bereits in der römischen Antike eine weitergehende, rechtliche Verankerung erfahren und sich dann durch die europäische Kulturgeschichte hindurch verstetigt, auch wenn der „römisch-rechtliche Gegensatz von publicus und privatus“ im europäischen Mittelalter zwischenzeitlich „obschon gebräuchlich, ohne Verbindlichkeit“ ist. Wichtig ist hierbei, dass die mit dieser Unterscheidung verbundenen Freiheiten zur Selbstbestimmung, auch wenn sie historisch von der öffentlichen in die private Sphäre wandern und dort zunehmend mit der Individualität der Person in Abgrenzung von Staat und Gemeinschaft verknüpft werden, konzeptionell immer eng mit einer sozialen, infrastrukturellen und materiellen Unterlage verknüpft bleiben. Diese beinhaltet soziale und ökonomische Interdependenzen (etwa der Entlastung durch Sklaven oder später dann privates Dienstpersonal) ebenso wie Rechte und deren mediale und infrastrukturelle Verankerung (etwa in einer Schriftkultur und weiteren Infrastrukturen der rechtlich-prozeduralen Streitaustragung).

Im Vergleich hierzu setzen sich dann mehr und mehr Perspektiven durch, die Selbstbestimmung mit normativen Idealen des aufkommenden liberalen Denkens und der Menschenrechte verknüpfen und diese zunehmend in der Sphäre des Privaten verorten. Dabei wird die ontologische Verankerung in materialen Praktiken und Strukturen nicht immer konsequent weiterverfolgt, sondern gerät diese bisweilen gegenüber geistesgeschichtlichen Erzählungen zur Durchsetzung von Vernunft, Freiheit und Zivilität ins Hintertreffen. Davon kaum betroffen ist jedoch die soziologische Rekonstruktion der Zivilisationsgeschichte durch Norbert Elias, insofern diese das psychogenetische „Vorrücken der Schamgrenze“ eng mit der schrittweisen Soziogenese von bürgerlichen Lebensformen ausgehend vom Mittelalter, den Entwicklungen der höfischen Aristokratie und der großen Staatsapparate im Absolutismus verknüpft. Elias liefert zahlreiche Belege dafür, dass insbesondere körperliche Verrichtungen – Essen, Schlafen, Körperreinigung, natürliche Funktionen – jeweils abgegrenzten und spezialisierten Sozialbereichen zugewiesen wurden. Die „immer stärkere Intimisierung aller körperlichen Funktionen, (…) ihre Einklammerung in bestimmten Enklaven, ihre Verlegung ‚hinter verschlossene Türen‘ hat Konsequenzen verschiedener Art“. So wird deren praktische und materiale Abgrenzung vom öffentlich einsehbaren Alltagsleben nach und nach auch auf dessen diskursive Thematisierung übertragen, sodass schließlich auch das öffentliche Erwähnen der fraglichen Inhalte verschwindet. Folge dieser Entwicklung ist eine den „Kult des Individuums“ hervorbringende und stützende Differenzierung des Sozialen, die nicht nur, aber auch als Vervielfältigung der öffentlich/privat-Unterscheidung auftritt: „Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selbst mit der fortschreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches Verhalten und ein öffentliches Verhalten voneinander.“

Die Zivilisationstheorie von Elias zeigt, wie in der Sphäre des Privaten allmählich neue Innenwelten des modernen Subjekts emergieren und Vorstellungen individueller Selbstbestimmung hervortreten lassen, die gleichwohl sozial figuriert sind und auf geteilten kulturellen Praktiken basieren. Das gilt auch für die bürgerlichen Ausprägungen von Privatheit, die das kritische Räsonnement als neue Qualität einer „Öffentlichkeit von Privatleuten“ aus einer Figuration kultureller Praktiken entstehen lassen und zunehmend auf die politische Sphäre der öffentlichen Gewalt des Staates ausdehnen. Literarisch trainiert (d. h. in der Rezeption und Diskussion von Romanen genauso wie in der Produktion extensiven Briefverkehrs geschult) und oftmals kaufmännisch orientiert, ziehen sich die Bürger regelmäßig in die kleinfamiliale Einsamkeit ihrer Schreibstuben zurück, um von dort aus in die Öffentlichkeit der Salons hervorzutreten und kritischen Diskurs zu üben. Dieses viel diskutierte und „weltweit prominenteste“ Öffentlichkeitskonzept von Jürgen Habermas lässt nun Privatheit als Quelle der Selbstverwirklichung in neuem Licht erscheinen, insofern die Reiche der Freiheit (Öffentlichkeit) und der Notwendigkeit (Freiheit) nicht nur äußerlich, d. h. ökonomisch und materiell, aneinander hängen, sondern einen inneren Konstitutionszusammenhang moderner Vernunfttätigkeit bilden, für die Aspekte von Privatheit und Öffentlichkeit stets zusammenkommen müssen. Entsprechend heißt es in Faktizität und Geltung, dass „sich eine vitale Bürgergesellschaft nur im Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur und entsprechender Sozialisationsmuster sowie auf der Basis einer unversehrten Privatsphäre herausbilden [kann] (…). Sonst entstehen populistische Bewegungen, die die verhärteten Traditionsbestände einer von kapitalistischer Modernisierung gefährdeten Lebenswelt blind verteidigen. Diese sind in den Formen ihrer Mobilisierung ebenso modern wie in ihren Zielsetzungen antidemokratisch.“

Die mit der bürgerlichen Privatheit verknüpften individualistischen Selbstverwirklichungsideen können die Erfahrungswelten der Innerlichkeit allerdings auch in einer Weise präferieren, dass diese die gesamte Kommunikation mit Erwartungen an die Authentizität von Personen überfrachten. Dominieren die besonderen Erfahrungsbereiche des Privaten auch die Erwartungen in der öffentlichen Sphäre, so kommt es zur „Tyrannei der Intimität“, die jede Regung von der Alltagsinteraktion bis zum politischen Statement auf ihren psychologischen Gehalt hin befragt. Eine solche pathologische Entwicklung, in der die Umgangsformen zunehmend narzisstisch ausgerichtet sind, sieht der Soziologe Richard Sennett – ein Schüler Hannah Arendts – im Übergang von der spätabsolutistischen zur bürgerlichen Strukturierung des öffentlichen und privaten Lebens am Werk. Daran zeigt sich gleichsam ex negativo die Relevanz sozialer Differenzierungen und Begrenzungen von Erfahrungsbereichen, die in dem Maße durch kulturelle Kompetenzen einer auf das unabhängige Individuum zugeschnittenen Kommunikation aufrecht erhalten werden müssen, wie äußere Erwartungssicherheiten versiegen, etwa durch die soziale Maskerade und klare Statussignale der ständischen Ordnung (z. B. Kleiderordnungen, Verkehrsmittel, Verhaltensstereotype und Ausdrucksformen). Sennett zufolge braucht es Mittel und Fähigkeiten zur Abgrenzung von Erfahrungsfeldern und -qualitäten, da ansonsten die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit implodiert. Die im Anschluss an Habermas und Sennett brisante Frage lautet dann, unter welchen Bedingungen entsprechende Fähigkeiten in der Sozialisation ausgebildet werden.

Hierfür ist die Konsultation weiterer Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel und Erving Goffman wichtig, die sich grundlegend den sozialen Interaktionsprozessen moderner Individuen zugewandt haben. Insbesondere Simmel hat die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der Beschränkung von Transparenz als eine Grundbedingung interpersonaler Kommunikation in der Moderne identifiziert. Er geht davon aus, dass die sozialen Akteure zwar ein gewisses Wissen vom anderen haben müssten, gleichzeitig jedoch auch bestimmte „Nichtwissensquanta“ diese Interaktionsgefüge strukturierten. Wer was über wen (legitimerweise) wisse oder nicht wisse, präge die sozialen Verhältnisse, so wie diese umgekehrt auch die wechselseitigen Wissensbestände bestimmten. In diesem Sinne sei das Geheimnis – „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“ – ein maßgebliches Strukturelement jeden sozialen Gefüges. Mit der modernen im Unterschied zur vormodernen Vergesellschaftungslogik wird diese Beschränkung wechselseitigen Wissens – die informationelle Privatheit avant la lettre – allerdings zunehmend anspruchs- und voraussetzungsvoller, da die zunehmende Differenzierung der sozialen Kreise und die damit einhergehenden Individualisierungsschübe die Anforderungen vervielfältigen. So werde selbst die auf Vertrautheit fußende Einrichtung der Freundschaft hiervon in Mitleidenschaft gezogen, insofern moderne Freundschaft im Unterschied zu antiken nicht mehr die Gesamtperson involviere, sondern lediglich einen bestimmten Persönlichkeitsaspekt. Moderne Individuen müssen folglich stets darauf achten, den Informationsfluss über differenzierte Freundschaftsverhältnisse hinweg einzuschränken, denn differenzierte Freundschaften „fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde.“

An diesem Beispiel wird schon deutlich, dass informationelle Privatheit unter modernen Bedingungen schnell zur Überforderung der individuellen Akteure werden kann. Diese benötigen hohe Kompetenzen darin, ihre verschiedenen Interaktionsbeziehungen aktiv zu managen. Wie dies konkret geschieht und welche Mittel ihnen hierfür zur Verfügung stehen, lässt sich mit Erving Goffman weiter vertiefen, der hierzu ein halbes Jahrhundert nach Simmel einflussreiche Forschungen unternommen hat. Auch Goffman geht davon aus, dass Akteursrollen und soziale Situationen unter nach-ständischen Bedingungen nur undeutlich bestimmt sind, insofern Interaktionserwartungen nicht länger umstandslos an soziomateriellen Zeichensystemen (Trachten, Wappen, Material und Farbgebung von Kleidung etc.) abgelesen werden können, sondern im Zuge der Interaktion selbst performativ hergestellt werden müssen. Hierzu müssen die Interaktionspartner im Vollzug der Interaktion zugleich Informationen über die Situation gewinnen und diese gemeinsam aushandeln: „When an individual enters the presence of others, they commonly seek to acquire information about him or to bring into play information about him already possessed. (…) Information about the individual helps to define the situation, enabling others to know in advance what he will expect of them and what they may expect of him. Informed in these ways, the others will know how best to act in order to call forth a desired response for him.“

Sobald solche Informationen aber nicht länger situationsübergreifend verwendet werden können, droht ein Clash normativer Anforderungen, sofern die Kontexte und Rollen keine angemessene Abgrenzung voneinander mehr erfahren: „Behavior may be inconsistent, as in the case of the proverbial office tyrant who is meek before his wife, but it is not noticed if the transactions occur in dissociated contexts. Most people live more or less compartmentalized lives, shifting from one social world to another as they participate in a succession of transactions. In each world their roles are different, their relations to other participants are different, and they reveal a different facet of their personalities.“ Um die Wahrscheinlichkeit normativer Dissonanzen herabzusetzen, betreiben die Akteure folglich „audience segregation“: Publika werden als Informationsempfänger kontextspezifisch voneinander abgetrennt. Informationelle Privatheit setzt also unter modernen Bedingungen voraus, dass entweder solche interaktiven Techniken der Publikumstrennung und Informationskanalisierung beherrscht werden und greifen können – oder aber funktionale Äquivalente hierfür gefunden werden.

2.2 Zur Verhältnisbestimmung von Privatheit und Digitalität

Aktuelle, auf Herausforderungen der Digitalisierung reflektierende Debatten um informationelle Privatheit sind stark von einem solchen Verständnis der Aufrechterhaltung einer in Kontexte differenzierten sozialen und informationellen Ordnung geprägt. Unklar ist dabei allerdings, inwiefern die normativen Bezugspunkte, auf die das Konzept der Privatheit abstellt, weiterhin solche der Ermöglichung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung der Person sind oder aber solche der Fortsetzung gesellschaftlicher Ordnungsmuster und damit verknüpfter Erwartungssicherheiten angesichts neuer technologischer Verknüpfungs- und Entdifferenzierungsmöglichkeiten. Was vor der Digitalisierung einen konstitutiven Zusammenhang gebildet hat – die Ausformung der individuellen Persönlichkeit mit einer als authentisch erlebten Innerlichkeit durch das selektive Management pluraler Kommunikationsbeziehungen einerseits und die Kompensation fehlender äußerer Sicherheiten im sozialen Erwartungsgefüge durch die sozialisatorische Herausbildung von Takt, Kontextsensibilität, impression management und Rollenkompetenz andererseits – könnte sich unter Bedingungen der Digitalität als trügerisch erweisen, in Konflikt geraten oder sogar Züge eines Nullsummenspiels annehmen.

Beispielsweise geht Helen Nissenbaums Theorie der kontextuellen Integrität nicht davon aus, dass das Spezifikum von Privatheit in irgendwelchen individuellen Kontrollvorstellungen zu finden sei, sondern in der normativen Angemessenheit von Informationsflüssen: „a right to privacy is neither a right to secrecy nor a right to control but a right to appropriate flow of personal information.“ Privatheitsverletzungen stellten Verletzungen der informationellen Integrität eines Kontextes dar und würden gerade deshalb als solche beklagt. Wenn etwa eine im Sportkontext verortete Fitness-App Gesundheitsdaten sammelt und an Krankenkassen weitergibt, die dann auf Basis dieser Daten individuelle Beitragssätze kalkuliert, erscheint dies aufgrund der „violation of contextual integrity“ als illegitimer Informationsfluss. Privatheit wird also von vornherein nicht an das Individuum, sondern an kollektiv gültige „context-relative informational norms“ gebunden, die festlegen sollen, welche Akteure in welchen Kontexten welche Informationen über welche Personen und Gegenstände auf welche Art und Weise versenden und empfangen dürfen.

Damit stellt sich allerdings die Frage, wie die nun getrennten Aspekte informationeller Privatheit – also die Begrenzung von Kommunikations- und Informationsflüssen zwischen disparaten gesellschaftlichen Teilbereichen einerseits und die Sozialisation eines differenzierungsfähigen, situationssensiblen und ich-starken bürgerschaftlichen Subjekts andererseits – unter Bedingungen der Digitalität verfolgt und sichergestellt werden können. Denn anders als bei Simmel oder Goffman scheint es nicht länger eine Interaktionsleistung wechselseitiger Situationsdeutung zu sein, einen kontextangemessenen Grad an Privatheit zu gewährleisten, sondern eher eine kollektive Organisations- oder Regulierungsleistung: Die Identifizierung des Kontextes, in dem ein soziotechnisches Informationssystem verortet ist, sowie der kontext-spezifischen informationellen Normen soll es erlauben, die Informationsflüsse einer Gesellschaft kollektiv bindend zu regulieren. Nun war allerdings informationelle Privatheit auch in vordigitalen Gesellschaften keine rein performative Angelegenheit interagierender Subjekte, sondern immer schon mit weiteren gesellschaftlichen Instanzen verbunden, die Beschränkungen und Machtdifferentiale in die Kommunikationsverhältnisse und Informationsflüsse eingezogen haben, man denke etwa an das Briefgeheimnis, Indifferenzen durch binäre Kommunikationscodes (etwa im Zahlungsverkehr) oder Abschreckung durch das Sanktionspotenzial des Staates. Umgekehrt sind technische Vorkehrungen zur Kanalisierung und Begrenzung von Informationsflüssen aber nie ganz von den Instanziierungen durch handelnde Individuen – etwa den Gestaltungsakteuren von IT-Systemen, aber auch kreativ Nutzenden – losgelöst, die demnach wissen und zu beurteilen vermögen müssen, welche Information wann warum verschlüsselt oder gesperrt gehört.

Aus diesem Grund bleibt der Konstitutionszusammenhang von kritikfähigen Subjekten und privatheitssichernden Kontextstrukturen der Kommunikation, der auch als eine Grundbedingung lebendiger Demokratie gesehen wird, unter Bedingungen der Digitalität weiter eine Gestaltungsherausforderung, wenngleich sich deren Verbindungslinien nicht mehr so einfach ziehen lassen. Die Verkomplizierungen von Privatheit durch Digitalität sollten nicht durch sozial- oder gesellschaftstheoretische Engführungen weggedeutet werden, indem etwa die Begrenzung von Informationsflüssen als Sache unpersönlicher Kommunikationssysteme oder Technologien dargestellt oder aber naiv an die Verantwortung und Sensibilität handelnder Individuen appelliert wird. Vielmehr muss auch unter Bedingungen der Digitalität Verschiedenes zusammenkommen, um die Integrität von Kontexten und Personen zu schützen. Dies zu modellieren, bieten Theorien im Anschluss an die science and technology studies bessere Ansatzpunkte als etwa die Luhmannsche Systemtheorie oder ein struktur- und technikblinder symbolischer Interaktionismus. Die Akteur-Netzwerk-Theorie nimmt das Digitale als eigenständige Einflussgröße ernst, die in die Kommunikationsgeflechte der Gesellschaft sowie deren Privatheitsverhältnisse sowohl auf der Seite der Subjekte als auch auf der Seite der etablierten institutionellen Ordnungen mit ihren systemisch, technisch oder organisational stabilisierten Informationsschranken interveniert. Dabei trägt sie der Performativität solcher Machtdifferentiale Rechnung, die folglich aktiv hergestellt und gepflegt werden müssen und sich darum nur durch das Nachzeichnen der praktischen Verknüpfungsprozesse erforschen lassen.

Digitalität kann ebenso Chancen wie Risiken für Privatheit in sich bergen. Um dieses Verhältnis zu durchdringen, sind genauere Kenntnisse darüber erforderlich, wie sie sich konkret situativ auf die Handlungsprogramme jener soziotechnischen Assoziationen auswirkt, in denen informationelle Privatheit als komplexes soziales Arrangement von Schranken und Freiheiten für die unterschiedlichen Beteiligten realisiert werden soll. Dabei gilt es, digitale Technologien als maßgebliche Elemente in die Analyse einzubeziehen, die aber niemals für sich stehen, sondern ihrerseits nur durch die Verknüpfung mit weiteren Einflussgrößen –ökonomische, politische, wissenschaftliche ebenso wie alltagspraktische und spezifische Kulturen der Wertschätzung von Individualität und Einzigartigkeit – zur Wirkung gebracht werden. Im nachfolgenden dritten Abschnitt werden solche Verknüpfungsprozesse und Wirkungsketten nachzuzeichnen versucht, indem sowohl die soziodigitalen Praktiken, in denen sich heutzutage personale Subjekte formen (3.1 und zusammenführend 3.4), in Augenschein genommen werden als auch die Verbindungen des Digitalen zu Handlungsprogrammen der Ökonomie und Verhaltenswissenschaften sowie zur Genese neuer komplexer Kommunikationsinfrastrukturen (3.2 und 3.3). Hierfür – das mag irritierend wirken, ist aber nur konsequent – wird unter Selbstbestimmung oder selbstbestimmtem Leben ein normatives Handlungsprogramm verstanden, das sich im Zuge des soziotechnischen Wandels gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse transformiert. Solche Transformationen hat dieses Programm in der Vergangenheit erfahren und wird es auch unter Bedingungen der Digitalität vollziehen – das ist unvermeidlich. Es bedeutet aber nicht, dass diese Evolution von Privatheit und Selbstbestimmung unkommentiert und unbeeinflusst bleiben muss. Vielmehr ist Privatheit in der hier zugrunde gelegten soziologischen Perspektive immer ein Gegenstand – oder issue – politischer, d. h. umstrittener und vielstimmiger Gestaltung und Konstruktion. Hierbei ist kontingent, welche Problemdeutung sich durchsetzt und ob diese für sich beanspruchen kann, demokratisch inklusive Lösungswege zu forcieren und den normativen Sinn von Selbstbestimmung nicht zu verraten. Solchen politischen Aushandlungsprozessen kann und sollte sich die soziologische Privatheitsforschung nicht entziehen, auch wenn ihre Aufgabe vorrangig in der sorgfältigen Beobachtung und Beschreibung dieser soziotechnischen Transformation liegt.

CC BY

Lamla, J., Büttner, B., Ochs, C., Pittroff, F., Uhlmann, M. (2022). Privatheit und Digitalität. In: Roßnagel, A., Friedewald, M. (eds) Die Zukunft von Privatheit und Selbstbestimmung. DuD-Fachbeiträge. Springer Vieweg, Wiesbaden.

https://doi.org/10.1007/978-3-658-35263-9_4

Zur einfacheren Lesbarkeit wurden die Quellenverweise und Fussnoten entfernt.


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