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Der Wert des Anonymen

Einleitung

Die öffentliche Debatte positioniert Darknets zwischen zwei Narrativen: Drogenverkauf und pädokriminelle Inhalte auf der einen, die Liberalisierung autoritärer Staaten auf der anderen Seite – vielleicht noch Hacker:innen und ihr Kreditkartenklau dazwischen. Mit wenigen Ausnahmen, die alternative Blickwinkel einnehmen, kommt die Mehrzahl der empirischen Darknetforscher:innen zu dem Schluss, dass die dort auffindbaren Inhalte problematischen Charakters sind. Vornehmlich geht es hierbei um das Tor-Netzwerk und so wird in Konsequenz dieser Ergebnisse gefordert, hidden services (also das Anbieten von anonymen Diensten) zu untersagen, während das anonyme Browsen weiterhin erlaubt bleiben soll. Das demokratietheoretische Argument, dass Darknets positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, da sie die Ausdrucksfreiheit stützen, bleibt dabei, zumindest für liberal-demokratische Staaten, Intuition.

Der vorliegende Aufsatz versucht diese Intuition zu substantialisieren. Um uns dem Problem zu nähern, 1) erarbeiten wir zuerst einen Begriff von Anonymität, 2) rekonstruieren anschließend Rösslers normativen Begriff von Privatheit, wonach 3) beide Begriffe aufeinander bezogen werden. 4) Folgend werden Eigenheiten des Internets als Kommunikationsraum aufgearbeitet und 5) Anonymität und Privatheit im Kontext des Internets diskutiert. 6) Schließlich wenden wir uns Darknets als Anonymisierungstechniken zu und 7) schließen mit einigen Kommentaren zu einer „Kultur der Anonymität“.

Anonymität

Ursprünglich wurde Anonymität als Phänomen der namenlosen Publikation zu Zeiten der Aufklärung relevant und im Fortlauf der Moderne zum Problem, in einer (wesentlich auch marktwirtschaftlichen) Entwicklung, in der ein Autorensubjekt ‚wertvoll‘ und „der persönliche Name des Autors die Instanz, die die Autorität eines Textes vermittelt“, geworden ist (wonach sich erst Fragen von Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit anschließen lassen. Ein vermehrtes wissenschaftliches Interesse am Phänomen „Anonymität“ erscheint wieder seit den späten 90ern mit der Verbreitung und Popularisierung des Internets. In diesen Veröffentlichungen wird Anonymität vom Verständnis als Namenlosigkeit gelöst, dabei hat sich der Aspekt der Identifikation von Personen gehalten und Anonymität wird an diesen gebunden. Anonymität steht nun in einer Dimension mit und als Gegenpol zu Identifizierbarkeit. Eine Person, gedacht in einer sozialen Interaktionssituation, ist zuerst einmal anonym, verliert diese Anonymität allerdings durch Identifikation mit einer Identität. Im Hintergrund des Begriffs „Identität“ steht dabei die Idee eines Subjekts (vermittelt Ideen von Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit) oder Individuums (als Zurechnung auf ein nicht teilbares Letztelement. Systemtheoretisch liegt es nahe (bei Anonymität) von einer Verunmöglichung der Zurechnung von Handlungen und Kommunikationen auf Personen zu sprechen. „Person“ ist dabei immer eine Konstruktion aus Sicht des sozialen Interaktionszusammenhangs und bestimmt als „individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten“.

Dabei muss nicht ein Individuum nur eine Person sein. Auch unter Anonymität können (im Regelfall) handelnde Entitäten beobachtet werden und ihr Handeln zugerechnet und so quasi-persönliche Formen stellen. Im Regelfall basieren Argumente zu Anonymität allerdings auf der Vorstellung einer wesentlichen und mehrerer unwesentlicher Handlungsträgerschaften (also: ein(e) Subjekt, Individuum, Identität, Person). Durch eben dieses Scheiden einer wesentlichen von unwesentlichen Handlungsträgerschaften, wird Anonymität in den Dimensionen von Verantwortlichkeit, „accountability“ oder Erreichbarkeit relevant, denn wenn man als wesentliches Ich nicht erreichbar ist, muss man sein anonymes Handeln auch nicht verantworten.

Betrachten wir das Beispiel eines Maskenballs: Das Gesicht einer Person ist verdeckt, alles Handeln bleibt sichtbar. Man kann die Person beobachten, ihren Körper, ihre Stimme, ihre Handlungen, ihre Aussagen, man kann die Person kennenlernen und sich ein Bild von der Person am Abend des Maskenballs machen. Wenn die Maske als Anonymisierungstechnik funktioniert, wird die Zurechnung dieser situativen Erfahrung mit der Person darauf verstellt, wer diese Person ‚noch ist‘ oder ‚sonst ist‘. Die Annahme hinter der Maske als funktionierende Anonymisierungstechnik ist, dass das Gesicht einen notwendigen Indikator stellt, um eine Person zu identifizieren, um die Kenntnisse über die Person an diesem Abend, mit Kenntnissen über die Person sonst (in anderen Handlungssituationen, oder mit einer anderen Maske auch an anderen Maskenballabenden) in Verbindung zu bringen. Natürlich überbeansprucht das Beispiel die Maske als Technik, allerdings können wir anhand des Beispiels die Funktionsweise von Anonymität kenntlich machen: Anonymität beschränkt die Zurechenbarkeit von Handlungen auf ihre situativen Interaktionskontexte und entkoppelt damit Handlungsträgerschaften, die unter Voraussetzung von Allwissen auf eine ‚Superhandlungsträgerschaft‘ integrierbar wären (das Bild des Individuums und ihrer Identität). Anders ausgedrückt und eine Hierarchisierung vermeidend: Anonymität verstellt die Korrelation und Aggregation von Handlungsträgerschaften (über Handlungssituationen hinweg) und damit ihre Ansprache unter einer Adresse. Die Feststellung von Anonymität ist damit auch ein Urteil über die Wiederidentifizierbarkeit von Sprecher:innen.

Beobachtungen entlang des Begriffs anonym/identifiziert geben Auskunft über die Erwartung des Beobachters bezüglich der Wiederzurechenbarkeit einer Aussage in anderen Kontexten. Dabei verweisen beide Teile der Form auf ihre Gegenseite: Anonymität ist nur im Hinblick auf Identifizierbarkeit denkbar und die Zurechnung als identifiziert setzt voraus, dass diese Zuschreibung verunmöglicht werden könnte. Dies gilt ebenso für die pseudonyme Kommunikation im Internet. Ohne die Verfügbarkeit weiterer Indikatoren kann die Kommunikation, die unter einem Pseudonym in einem Kommunikationsraum im Internet vollführt wird, nicht auf weitere Situationen zugerechnet werden. Es gibt technische und soziale Indikatoren, die eine solche Zurechnung erlauben. Beispielsweise kann durch die Daten, die ein Browser von einem PC sendet, ein eindeutiges Profil der Nutzer:in angelegt werden, auch unter vielen Millionen Nutzer:innen. Cookies und deren Aggregation sind eine weitere Option Handeln in unterschiedlichen Kontexten eindeutigen Profilen zuzurechnen sowie die IP-Adresse, solange sie konstant ist, eine situative, wenn auch relativ kurze (da sie bei jedem Verbindungsaufbau des Routers zum Internet service provider gewechselt wird) Zurechnung unterschiedlicher Datenströme und Nutzerhandlungen zu einem Anschluss erlauben kann. Soziale Indikatoren, die einen Hinweis darauf geben, dass Kommunikationen eventuell auf dieselbe Person verweisen, wären sozialstrukturelle und biographische Informationen, die Sprache und Eigenheiten der Ausdrucksweise oder Syntaktik.

Durch die Differenzierung von Interaktionskontexten, die von einer allwissenden Beobachterin auf einen stabilen Referenten rückgerechnet werden könnten, versichert Anonymität eine Differenzierung von Wissen, das über eine Person in diesen Interaktionskontexten besteht. Anonymität ist damit sozialpraktisch im Wesentlichen auch eine Technik zum Erwartungsmanagement. Wenn eine Gruppe von Menschen nur weiß „wer ich hier bin“ und nicht weiß „wer ich noch bin“, muss ich im Rahmen dieser Gruppe auch nur mein Verhalten in dieser Gruppe verantworten. Durch die Herstellung von Kontextspezifizität einer Kommunikation können auch ihre Folgen besser abgesehen werden. Wenn Verhalten in unterschiedlichen Kontexten von einem Beobachter auf eine stabile Person zugerechnet werden kann und wir mit der Theorie einer modernen Gesellschaft die fortschreitende Differenzierung von sozialen Kontexten, die je eigene normative Ansprüche ausbilden, unterstellen, sind die Probleme absehbar: Verhalten in Kontext B kann bei Kenntnis in Kontext A nach den Regeln von Kontext A thematisiert und hinterfragt werden. In diesem Sinne ist Anonymität eine Möglichkeit steuernd auf Kommunikation einzuwirken, indem versucht wird bestimmte Anschlussmöglichkeiten an die Kommunikation auszuschalten. Wir können in dieser Hinsicht auch sagen, dass Anonymität die Rechtfertigungskontexte für das eigene Handeln different hält.

Anonymität ist schließlich ein beobachtungsrelativer Begriff. Die Zuschreibung von Anonymität bezeichnet die Nichtbeobachtbarkeit von beobachtbar erwarteten Markern zur Integration situativen Verhaltens einer Handlungsträgerschaft in weitere Handlungskontexte derselben Handlungsträgerschaft. Pseudonymität leitet die Zuschreibung auf einen von der Person selbst konstruierten Marker um. Anonymisierung kommt damit der Verschleierung von Markern gleich, die für beobachtende Personen notwendiges Wissen zur Aggregation von Handlungsträgerschaften bereithalten würden. Aus identitätstheoretischer Perspektive können wir sagen, Anonymität ermöglicht das Zuschneiden einer Selbstdarstellung auf einen Handlungskontext, ohne sich in weiteren Kontexten oder für weitere Kontexte verantworten zu müssen. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive können wir sagen, Anonymität ermöglicht das Zuschneiden von Kommunikation auf einen Kontext ohne kommunikative Anschlüsse aus anderen Kontexten oder über andere Kontexte zu erwarten. In beiden Perspektiven ist Anonymität eine Steuerungstechnik für Erwartungen und eben damit, mit Luhmann gesprochen, eine Einschränkung der Personifikationsmöglichkeiten in Kommunikationskontexten.

Zusammenfassend können wir sagen:

  • die technische Funktion von Anonymität ist die Verschleierung von Identitätsmarkern
  • die soziale Funktion von Anonymität ist die Differenzierung von Handlungskontexten
  • für das Individuum ist Anonymität eine Technik zum Erwartungsmanagement durch Einschränkung der Personifikationsmöglichkeiten in Interaktionszusammenhängen
  • als Beobachtungsform ist die Frage nach Anonymität eine Beobachtung von Markern anhand der Unterscheidung transparent/intransparent

Fundamental bleiben Aussagen über Anonymität Aussagen über Marker, spezifisch über die Nichtbeobachtbarkeit erwarteter Marker. Ich schlage deswegen vor, für die soziologische Analyse von Anonymitätsphänomenen, die typischen (sachlich relevanten) Unterscheidungen anonym/pseudonym, Anonymität/Identität, Erreichbarkeit/Nichterreichbarkeit usf., um die Form transparent markiert/intransparent markiert zu erweitern. Der Begriff der Intransparenz verweist dabei auf die Erwartung, dass etwas momentan zwar nicht beobachtbar ist, aber beobachtbar sein könnte oder sogar sein sollte und auch darauf, dass Entscheidungslagen unter Intransparenz Beobachter vor bestimmte Entscheidungsprobleme stellen. Letztlich erlaubt die hier vorgeschlagene Fassung von Anonymität dynamisch mit Handlungsträgerschaften umzugehen, da diese nicht schon hierarchisiert in der Unterscheidung angelegt sind.

Der Wert des Privaten

Rössler sieht persönliche Autonomie als den Kern des liberalistischen Freiheitsgedankens. Vor dem Hintergrund eines liberal-demokratischen Gesellschafts- und Menschenbilds argumentiert sie, dass Privatheit ein irreduzibler Wert ist, der für die Herausbildung und den Erhalt autonomer Subjektivität funktional notwendig ist. Autonomie ist wiederum notwendig, a) um ein selbstbestimmtes, gutes Leben zu führen und b) für eine funktionierende liberal-demokratische Gesellschaft. Zu verstehen ist:

„Privatheit als Kontrolle über den Zugang von anderen und damit als Schutz vor dem unerwünschten Zutritt anderer – wobei dieser Zugang oder Zutritt als tatsächlicher physischer Zutritt (in Räume) und als metaphorischer Zutritt zur Persönlichkeit, und zwar im Sinne eines Zugriffs auf Informationen einerseits und im Sinne von Einspruchs- oder Verhaltensweisen andererseits bestimmt wurde; so dass sich das, was wir unter privat verstehen, in diese drei Hinsichten oder Dimensionen aufgliedern lässt: Privatheit des Ortes, Privatheit der Informationskontrolle und Privatheit der Entscheidung oder Handlung.“

Privatheit ist dabei wiederum auf Schutz angewiesen und zwar durch rechtliche und soziale Normen. Das, was als privat gilt, ist nicht objektiv festzuschreiben, sondern konventionell definiert (und ändert sich damit über Zeiträume oder Handlungskontexte hinweg). Wir folgen Rösslers Arbeiten zu Privatheit durch Rekonstruktion der relevanten Begriffe (bei generellem Erhalt des Begriffsgebäudes und der Intention) und schließen mit einer zusammenfassenden (Re)deskription am Ende des Kapitels.

Autonomie

Aus der Beobachtungsperspektive einer Person besteht Freiheit allein in der Wahrnehmung verfügbarer Handlungsmöglichkeiten ohne Urteil über deren Attraktivität. Ein Wert ist Freiheit an sich noch nicht, sondern erst wenn eine Wahlmöglichkeit unter Angabe guter selbstbestimmter Gründe besteht und diese guten Gründe mit dem eigenen Selbstverständnis in Einklang stehen. Dabei ist das eigene Selbstverständnis und die damit einhergehende Genese von Wünschen und Zielen immer auch Produkt der eigenen Sozialisation. Um Autonomie emanzipatorisch zu denken, ist deswegen notwendig nicht nur von Einklang mit einem Selbstverständnis zu sprechen, sondern mögliche Selbstverhältnisse (im Sinne von Modi der identifizierenden Selbstbezugnahme) zu differenzieren. Deswegen setzt Rössler für Autonomie nicht nur Wahl im Einklang mit irgend einem Selbstbild, sondern authentische Identifikation im Einklang mit dem ‚richtigen‘ Selbstbild voraus. Die autonome Wahl verwirklicht sich schließlich im Fassen und Durchführen von Zielen und Projekten, wobei diese Ziele und Projekte wiederum Reflexionsquelle für das eigene Selbstverständnis sein können. Schließlich ist Autonomie qua authentischer Identifikation mit einer selbstbestimmten Wahl auch auf Anerkennung der Selbstdarstellungen angewiesen, in denen sie Ausdruck findet.

Wir haben damit ein Modell mit fünf Ebenen:

  1. die Wahrnehmung von Möglichkeiten
  2. eine selbstbestimmte Hierarchisierung dieser Möglichkeiten
  3. die Übereinstimmung der eigenen Entscheidung mit einem Selbstbild
  4. die Reflexion auf dieses Selbstbild als authentisch bzw. die Möglichkeit es zu ändern
  5. die Möglichkeit autonom-authentische Wahl praktisch und sozial umzusetzen und aufrechtzuerhalten (qua Anerkennung)

Privatheit

Wie oben erwähnt, artikuliert sich Privatheit bei Rössler in drei Dimensionen. Dezisionale Privatheit umfasst selbstbestimmte Lebensführung als Wahl und Ausdruck dieser Wahl. Sie artikuliert sich in der Möglichkeit, „mich im sozialen Raum unbehelligt so zu verhalten, so zu leben, wie ich es möchte“ und zwar ohne „den unerwünschten Einspruch von anderen“ und unter „Freiheit von Rechtfertigungszwängen“. Im öffentlichen Raum ist dieser Schutz wesentlich realisiert durch Normen und Praxen der „Zurückhaltung, Nichtwahrnehmung, Reserve oder Indifferenz“. Über die Darstellungen in „Der Wert des Privaten“ hinausgehend, können Momente der unbewussten Beeinflussung von Entscheidungsfindung ebenfalls dazugerechnet werden. Internetphänomene wie das Schalten manipulativer Facebookwerbung oder das Tracken und Verarbeiten von Daten, die sich in personalisierter Aufbereitung von Webseiten oder im Schalten von Werbung speisen, überschreiten die Grenzen dezisionaler Privatheit, da sie eben die autonom-authentische Entscheidungsfindung beeinträchtigen.

Informationelle Privatheit fußt auf der persönlichen Kontrolle des Wissens über die eigene Person, seine selbstbestimmte, differenzierte Weitergabe und damit einhergehend auf einer realistischen Vorstellung dessen, was von der eigenen Person in bestimmten Kontexten erwartet wird. Sie ist ebenso auf die Aufrichtigkeit von Interaktionspartner:innen angewiesen. Das selbstbestimmte und differenzierte Teilen von Wissen einerseits und die Vertrauenswürdigkeit von Interaktionspartner:innen andererseits, sind notwendig, um sich kontextgerecht authentisch verhalten zu können, denn 1) abhängig von kontextspezifisch verfügbarem Wissen entstehen Erwartungen, die die Grundlage dafür schaffen, was es in den Augen anderer (aber auch im eigenen Selbstverständnis) heißt, sich authentisch zu verhalten. Rössler schreibt:

„Deshalb will ich vorschlagen, generell Verletzungen informationeller Privatheit zu verstehen und zu interpretieren als falsche oder enttäuschte Erwartungen: hinsichtlich des Wissens und damit einer bestimmten Haltung oder Einstellung von Interaktions- und Kommunikationspartnern einer Person gegenüber. Spezifikum der Verletzung informationeller Privatheit ist also, dass es sich um Erwartungen und Annahmen darüber handelt, was diese anderen Personen oder Institutionen jeweilig über eine Person wissen, wie sie an Ihr Wissen gelangt sind, und damit, in welcher Beziehung sie aufgrund dieses Wissens zu ihr stehen“.

Der Hintergrund dieses Problems ist, dass Erwartungserwartungen an andere mein Verhalten zuforderst moderieren und enttäuschte Erwartungen aufgrund fehlerhafter Erwartungserwartungen zu Konflikten führen können. 2) Durch die Asymmetrisierung von Wissen werden bestimmte Typen von Beziehungen mitbestimmt oder ermöglicht. Gerade die intime Beziehung, die sich in einem Kontext realisiert, „in dem man davon ausgehen kann, dass die in die Kommunikation eingebrachten Standpunkte keine nicht-involvierten Standpunkte einer Beobachterperspektive sind, dass also ein sympathetisches Interesse der Personen untereinander gegeben ist“, hat eine Differenzierung der mitgeteilten Informationen nach sozialem Kontext als Voraussetzung. Die Interaktion in intimen Beziehungen ist eine der Hauptressourcen in denen sich die Identität der Person dialogisch konstituiert und ist deshalb a) auf den Schutz der Privatheit angewiesen, der diese Form von Interaktion ermöglicht und b) auf den Schutz der internen Struktur dieser Interaktionsform, gestellt durch die Interaktionspartner:innen selbst. Das heißt, es wird erwartet, dass sich Partner:innen sympathetisch, authentisch und aufrichtig zeigen und sorgsam mit den geteilten Informationen umgehen, da sie sich um den Stellenwert und die Fragilität der Situation bewusst sind.

Lokale Privatheit fordert unbeobachtete Räumen, die der eigenen Kontrolle unterliegen. Rössler konstatiert privaten Räumen einerseits die Möglichkeit einer persönlich-bedeutsamen Selbstgestaltung des Raums durch private Objekte (die durch den Raum als private Objekte konstituiert werden können) und weiterhin des versicherten ‚Für-sich-seins‘. Diese Beobachtungs- und Erwartungsfreiheit ermöglicht auszuprobieren, „wer man sein will“. Die private Wohnung kann eine absolute „Hinterbühne“ stellen (also eine in Freiheit jeglichen Darstellungszwangs), dies aber nur unter Ausschluss der Anwesenheit und des Blickes (sie bezieht sich hier auf Sartre) jeglicher anderer, da „in intersubjektiven Beziehungen zum anderen sich immer auch eine Festlegung, ein Ausschluss von Möglichkeiten des Sich-zu-sich-verhaltens und der Selbstinterpretation zum Ausdruck bringt“. Die Notwendigkeit dieser Rückzugsmöglichkeiten ist nicht nur relevant in Bezug auf unbestimmte andere, sondern auch in (intimen) persönlichen Beziehungen. Letztlich ermöglicht lokale Privatheit auf Dauer gesetzte Sorgebeziehungen in einem Haushalt (ihre Definition von Familie) sowie körperliche Intimität bzw. die freie Inszenierung von Körperlichkeit. Sie schreibt zusammenfassend: Lokale Privatheit schätzen wir, „weil sie die Möglichkeit bietet, ungestört und ungesehen mit sich allein zu sein; eine Möglichkeit, die für das gelungene Erproben, Erlernen, Suchen von (Aspekten von) Autonomie unerlässlich scheint. Mit sich allein zu sein, um so autonom und authentisch zu suchen, was man will und »wer man sein möchte«, ist offenbar ein zentraler Aspekt dessen, warum wir die einsame Privatheit suchen und schätzen“.

Damit schließen wir unsere Rekonstruktion von Rösslers Begrifflichkeiten ab. Wir können sie nun zusammenfassend reformulieren.

Bei dezisionaler Privatheit geht es um die Kontrolle ungewollter Kommunikation als ungewolltes Thematisieren der eigenen Lebensentscheidungen, jedoch bei Erhalt der Beobachtbarkeit des Handelns (also in sozialen Situationen, in denen das Leben der eigenen Entscheidung grundsätzlich hinterfragbar ist). Dieses Erfordernis entspringt Rösslers Fassung von Autonomie, da Autonomie nicht nur auf die eigenständige Wahl, sondern wesentlich auch auf Möglichkeiten ihres Ausdrucks in Handlungen angewiesen ist. Das heißt, es geht um einen Ausschluss ungewollter Kommunikation bei Erhalt eben der Möglichkeit dieser ungewollten Kommunikation. Das heißt auch, dass Privatheit in diesem Sinne auf soziale Regulation angewiesen ist. In einem weiteren Sinne geht es bei dezisionaler Privatheit um den Ausschluss unbewusster oder zumindest ungewollter Information (Beeinflussung) der eigenen Entscheidung.

Bei informationeller Privatheit geht es um Kontrolle ungewollter Beobachtung (zur Herstellung von Erwartungssicherheit über das Wissen anderer) und dies ebenfalls bei Erhalt der Beobachtungsmöglichkeiten. Gewünscht ist die Versicherung korrekter Vorstellungen der Person über die Erwartungen in einem interaktiven Zusammenhang an sie, über die Art des interaktiven Zusammenhangs und ebenso die Integrität von Beziehungen und der Sich-beziehenden selbst. (Die Integrität einer Beziehung muss vor Beobachtung durch Dritte geschützt sein, aber auch: die Integrität einer Beziehung muss durch die Aufrichtigkeit der Teilnehmer:innen gewahrt bleiben.)

Bei lokaler Privatheit geht es um Kontrolle ungewollter (auch Kommunikations- und Beobachtungs-, aber spezifisch) Wahrnehmungsmöglichkeiten (also eine Radikalisierung, bei der schon die achtsame Anwesenheit anderer einschränkend ist) und so um die Etablierung maximaler subjektiver Erwartungssicherheit und Einschränkungsfreiheit. Auch hier ist der Schutz der Privatheit auf Rechte (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Normen (dass man klopft, bevor man einen Raum betritt) angewiesen, aber eben nicht auf eine soziale Regulation der momentären Interaktionssituation oder den Schutz von sozialen Situationen an sich.

Zusammenfassend können wir damit sagen: Mechanismen zum Schutz von Privatheit sind solche, die Nichtkommunikation, Nichtbeobachtung und Nichtwahrnehmung (in je individuell bestimmter Hinsichtnahme) versichern können.

Der Wert des Anonymen

Durch die Begriffsrekonstruktion wird ersichtlich, wie Privatheit und Anonymität aufeinander bezogen werden können. Das Differenthalten von Handlungskontexten und damit das Situieren von Selbstdarstellungen macht Anonymisierung zu einer Technik, die informationelle und dezisionale Privatheit schützen kann. Wissen über das Handeln von Personen wird dabei nicht durch eine Verunmöglichung von Beobachtbarkeit geschützt, sondern indirekt, durch eine Verunmöglichung der Aggregation von Wissen. Anonymität schützt die Autonomie der Person (über Privatheit), indem sie ihr Selbstpräsentationen ermöglicht, deren Interpretation durch einen ‚breiteren‘ Blick auf die ‚Gesamtheit‘ der Person verstellt ist. Sie ist damit eine kompensatorische Technik zum Erwartungsmanagement, die von sozialer Rücksichtnahme unabhängig ist. Diese ‚praktische Anonymität‘ ist darauf angewiesen, dass Beobachter kein weiteres Wissen zur Integration von Handlungen aus unterschiedlichen Handlungskontexten besitzen (die beobachtete Person also intransparent markiert ist) und sie funktioniert in Interaktionen zwischen Unbekannten auf der Straße und Interaktionen zwischen Unbekannten im Internet gleich. Sie enthebt auch nicht von situativen Rechtfertigungszwängen (da das situative Handeln weiter beobachtbar bleibt). Damit schützt sie dezisionale Privatheit auch nur eingeschränkt. Wenn man sagen kann, dezisionale Privatheit wird durch Anonymität geschützt, dann nur in dem Sinne, dass Wissen zum Hinterfragen einer Entscheidung nicht vorhanden ist. Anonymität erhält also ihren Wert wesentlich im Bezug auf Privatheit und dabei vor allem auch in Bezug auf die Dimension der informationellen Privatheit.

Ich möchte hier jedoch vorschlagen, Anonymität auch als ‚Wert an sich‘ zu verhandeln. Rössler, die den Wert von Anonymität auf Privatheit engführt, trifft genau den Kern dieses Gedankens, wenn sie zu Beginn ihres Aufsatzes schreibt, dass „man sich als anonyme Person in der Öffentlichkeit bewegen will als ob man nicht bekannt, als ob man namenlos sei, als ob man gleichsam das Schutzschild des Privaten mit sich herumtrage.“ Die Krux liegt im „als ob“. Sozialtechnisch schützt Anonymität Privatheit durch Differenzierung von Handlungskontexten, aus Sicht der Akteure ist aber ein nicht-technischer Effekt dessen wesentlich: Die Wahrnehmung einer Situation als anonym verbürgt eine bestimmte Form von Handlungsfreiheit vor dem Hintergrund des Fehlens personengeschichtlicher Bindungen einerseits und vor dem Hintergrund eines bestimmten Gefühls von Verantwortungsfreiheit (oder vielleicht zutreffender: geänderter Verantwortlichkeit) andererseits. Dieses Gefühl entspringt dabei wesentlich der Wahrnehmung der Interaktionssituation als „anonym“ und damit bspw. als eine Situation, in der das eigene Verhalten in dieser Situation nicht im ‚sozialen Gedächtnis‘ gespeichert wird, sondern mit der Interaktionssituation vergeht. Diese (Wahrnehmung von) Handlungs- und Verantwortungsfreiheit verbürgt Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten different zum alltäglichen Verhalten. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Ritualen, die Normalitätserwartung aussetzen. Man denke an eine Faschingsfeier und im Rahmen solcher Situation könnten wir sagen: Hier schützt nicht Anonymität Privatheit, sondern Privatheit schützt Anonymität qua Norm. Es ist in diesem Sinne (also in der Wahrnehmung positiv bewerteter konstitutiver Anonymität, die sich im Fehlen von, oder im nicht beharren auf, personengeschichtliche(n) Bindungen und/oder in geänderter Verantwortlichkeit zeigt), dass das Internet der 90er in der Hoffnung freier Identitätsgestaltung und egalitärer Kommunikationsmöglichkeiten thematisiert wurde, es ist in diesem Sinne, dass Barlow 1996 „A Declaration of Independence of Cyberspace“ schreibt und es ist auch in diesem Sinne, dass Serres (bzw. sein Übersetzer) 2013 exklamiert: „Erfindet euch neu!“. Während Anonymität also Privatheit schützt, die sich in Handlungsfreiheit durch autonome Wahl substantialisiert, gilt ebenso umgekehrt Anonymität als Wert, der durch eine Norm von Privatheit geschützt werden kann und sich in Autonomie unter der Annahme erweiterter Handlungsfreiheit zeigt.

Nichtsdestotrotz bleibt Anonymität vornehmlich auch Technik, und zwar Technik, die durch das Versichern von Nichterreichbarkeit eine Möglichkeit bietet eigenes Verhalten nicht verantworten zu müssen. An diese Dimension schließt sich dann die Diskussion um das Internet als abrasivem Kommunikationsraum und an das Darknet als Medium für Kriminelle an. Dies bringt uns zur Besprechung der Kommunikationssituation im Internet.

Internet

Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf synchrone und asynchrone schriftliche Interaktionsformen im Internet. Natürlich ist auch Internettelefonie oder Internettelefonie unter der Zugabe von Telepräsenz bzw. Sonderformen wie Spiele über das Internet als Kommunikationsform zu denken, die wesentliche Kommunikation über das Internet findet allerdings textuell, also über Microbloggingdienste und soziale Netzwerke, Foren, direct messaging und Kommentarboxen statt.

Fernkommunikation

Die Kommunikation im Internet ist durch Fernpräsenz charakterisiert. Damit befinden wir uns in einer Kommunikationssituation, die die Interaktion zwischen Teilnehmer:innen, im Gegenzug der von Goffman erarbeiteten Situation der Interaktion in Kopräsenz, unter maßgeblich andere Bedingungen stellt. In Goffmans Interaktionssituation ist körperliche Anwesenheit wesentliches, situativ die Interaktion strukturierendes Merkmal. Interaktionspartner:innen befinden sich in kollaborativer Aushandlung, in der a) die Deutung der Situation und b) die Deutung der jeweiligen persönlichen Darstellung je gemeinsam erarbeitet werden. Fehler oder Missverständnisse, die in der Situation auftreten, können ad hoc ‚repariert‘ werden, wobei dies auch als gemeinsame Leistung zu verstehen ist, in der die Interaktionspartner:innen eben diese Möglichkeit zur Reparatur zuvorderst eröffnen und Normen der Zurückhaltung vorliegen, durch die nicht jede Inkonsistenz explizit zum Thema gemacht wird.

Die so stattfindende Interaktion hat damit immer auch einen situativ-prozessualen Aufbau und eine Geschichte. Gerade auch die Interaktion unter Unbekannten baut sich aus einer Situation wechselseitiger, bestätigender Wahrnehmung des Anderen als Individuum auf (die zumeist zu Nichtinteraktion führt. Beim Eintritt in eine Interaktion und im kollaborativen Aufbau der Situationsdeutung und des Interaktionsprozesses unter körperlicher Anwesenheit, kann sich bei Gelingen auch eine besonders emotiv beflügelte, positiv-produktive Wechselseitigkeit einstellen, in der sich die Körper und ihre Aussagen rhythmisiert verzahnen. Letztlich ist der Körper und vor allem das Gesichtsfeld Werkzeug, um die Authentizität und Wahrhaftigkeit der eigenen Darstellung zu versichern.

All diese Aspekte gehen bei textueller Interaktion verloren. Diese Form der Interaktion kapriziert sich auf das einzig Vorliegende: die objektivierte Aussage. Die objektivierte Aussage a) bleibt zeitlich beständig (sie verfliegt nicht wie Aussagen oder körperliche Darstellungen in der kopräsenten Interaktionssituation) und muss b) nicht nur die Information, sondern auch ihre Metakriterien wie Authentizität und Wahrhaftigkeit verbürgen. Im Rückblick auf die immer-objektiviert-dastehende Form des Geschriebenen kann und muss sich die Kommunikation aufhängen.

Dies führt, so könnte man argumentieren, zu einer Überbeanspruchung der Informationsvermittlungskapazitäten von Sprache. Die Aussage muss verstanden werden, ohne Wissen über die Situation in der die Aussage durch die Sprecherin formuliert wurde. Verstehen funktioniert dann unter Bezugnahme auf die Aussageperson in einer als-ob Typik, in einer Form, die Schütz in Bezug auf den Briefverkehr „Pseudotypisierung“ genannt hat (also anhand von Typisierungen, die nicht der Interaktionssituation selbst entstammen. Der notwendige Fokus der Interaktion auf die Inhaltsebene einer dekontextualisierten Aussage und das notwendige Verstehen ohne situativ angemessenes Wissen, führt zu einer Komplexitätssteigerung der Anschlussmöglichkeiten (da die Anschlussmöglichkeiten eben nicht interaktiv, situativ bedingt reduziert werden, also durch die Interaktionssituation und ihre Deutung selbst schon in eine ‚Bahn‘ gelenkt sind), die wiederum, wie ich vermuten würde, zumindest bei der Kommunikation unter Unbekannten, zu einer Bevorzugung von Anschlüssen durch Zustimmung oder Ablehnung des Gesagten in Bezug auf die eigene Meinung führt (anstatt, sagen wir, ein Entfalten alternativer Sichtweisen oder ein inhaltliches Argumentieren anhand zusätzlicher Argumente auszulösen). Dies kann durch fehlende situative Steuerungs- und Korrekturmechanismen leichter zu einer emotiv-konfliziösen Aufladung der Interaktionssituation führen.

Wenn man auf Twitter schaut, bekommt man schnell den Eindruck, dass sich die Öffentlichkeit hauptsächlich in Konfliktform abspielt. Vor dem Hintergrund der Kommunikationssituation unter Unbekannten im Internet, also ohne eine zuvorlaufende, gegenseitige, die Präsenz bestätigende Wahrnehmung, die auch eine Art ‚Grundrespekt‘ vor der Person vermittelt, ist jeder Einstieg in eine Interaktion online eine ‚cold open‘. Zudem ist jeder Anschluss an eine Mitteilung durch die Form des Mediums (die meisten Medien zeigen eine deutliche Themenzentrierung, die von ihrer generellen thematischen Ausrichtung und den jeweiligen Erstmitteilungen gestellt wird) dazu angehalten, eine passende, inhaltliche Aussage zu treffen (und dies eben ohne weitere Kenntnis der Person oder der Situation, in der eine Aussage getätigt wurde).

Internetaussagen in Foren und Medien wie Twitter sind fundamental öffentliche Aussagen, oft Aussagen über Privates, aber Aussagen, die keinen bestimmten Rezipientenkreis mit einer bestimmten Haltung festlegen können. Vor dem Hintergrund einer differenzierten Gesellschaft mit ihrer Vielzahl an Haltungen, Wertungen und Normen, ist es nicht verwunderlich, dass dann gerade solche Mitteilungen anschließen, die die zugrundeliegenden Werte einer Aussage thematisieren (und es ist fast unmöglich Aussagen ohne zugrundeliegende Werte zu treffen). Als ‚cold open‘, dekontextualisierte Kommunikation und unter Fehlen körperlicher Möglichkeiten Gutgesinntheit, Wahrhaftigkeit und Authentizität zu vermitteln sowie ohne interaktive ‚Reparaturmechanismen‘ für Missverständnisse, ist es naheliegend, dass viele Mitteilungen einen konfliziösen Interaktionsverlauf nach sich ziehen.

Internet als soziales Gedächtnis und technische Beobachtung

Wechseln wir auf die Makroperspektive. Eine der Haupteigenschaften des Internets ist, dass es nicht vergisst. Floridi schreibt: „In history, the problem was what to save (…)(.) In hyperhistory (also unter Bedingung einer dominanten informationstechnischen Durchdringung der Gesellschaft; Anm. RL) saving is the default option“. Jede Selbstdarstellung durch Internetmedien entgleist unserer Kontrolle. Und dies nicht zuvorderst durch die Intransparenz der verwendeten Software, sondern allein schon aufgrund der (transparenten) Funktionsweise der Medien in ihrer sozialen Nutzung: Wenn ich eine Chatnachricht über WhatsApp sende, bleibt diese Nachricht in objektivierter Form bei den Empfänger:innen. Sie kann zwar persönlich vergessen werden, bleibt aber technisch erinnert und ich habe keine Kontrolle darüber, mit wem und wann die Nachricht geteilt wird. Natürlich kann sich auch Wissen über Personen durch Hörensagen verbreiten, hierbei kann es jedoch immer zu Fehlerinnern oder Missverständnissen kommen. Die geteilte digitale Nachricht versichert ihre eigene Authentizität durch ihre Existenz. Wenn ich ein Video auf YouTube hochlade, habe ich zwar die Möglichkeit dies zu löschen, aber ich habe keine Ahnung, wer das Video inzwischen heruntergeladen hat und wo es eventuell zur Verfügung gestellt wurde. Wenn ich einen Beitrag in einem Internetforum verfasse, verbürgt mein Profil im Regelfall durch die Architektur des Forums meine Mitteilungsgeschichte (zumindest solange der Account existiert) und mein Profil auf einem Seitensprungportal kann ich nur geheim halten, bis die Accountdatenbank gehackt und ins Internet gestellt wird.

In F2F-Interaktionen verpufft das Gesagte sobald es gesprochen ist. Die Tatsache der Speicherung eigener Selbstdarstellungen bei gleichzeitigem (natürlich auch technischen, aber vor allem auch sozialen) Kontrollverlust steigert somit ungemein das Risiko von Selbstdarstellungen. Die Zukunft ist charakterisiert durch ihre Offenheit. Haltungen, Werte, Wahrnehmungsschemata, Normen und Selbstverständnisse können sich ändern – die eigene Mitteilung hat Konstanz. Aussagen, die in einem bestimmten normativen Klima getätigt wurden, finden sich eventuell 10 Jahre später unter heftiger Kritik. Doch auch weniger radikal: Die eigene Mitteilung wird entbettet und somit zum Artefakt. Ein Artefakt, das in unbestimmten zukünftigen Kommunikationen als selbstverbürgt-echte Aussage eingebracht werden kann.

Gesteigert wird diese Problematik durch die Omnipräsenz von Tracking und die Aggregation von Daten. Generell wird dies als Problem der Privatheit verhandelt, entweder als Kontrollverlust über die eigenen Informationen oder im Hinblick auf unbewusste Beeinflussung. Fakt ist, dass Firmen wie Facebook, Amazon und Google wesentlich unser digitales Handlungsfeld, in dem wir uns eben auch als Selbste verwirklichen, mitbestimmen. Facebook entscheidet algorithmisch, welche Posts mir angezeigt werden, um die Chance meiner Teilnahme zu maximieren, Amazon empfiehlt Produkte basierend auf (zumindest) meiner Interaktionsgeschichte und meinem Wohnort und Google zeigt Suchergebnisse und schaltet Werbung eben auch in Bezug auf die automatische Verarbeitung meines persönlichen Verhaltens. In dieser Sichtweise entgleist mir die Kontrolle über die Folgen meines Handelns insofern, dass nicht nur die Folgen unbestimmt sind, sondern auch Intransparenz darüber besteht, was, wie und in welcher Konsequenz überhaupt getrackt wird. Es wird automatisch beobachtet, verarbeitet und aggregiert, durch die Verarbeitung und Nutzung werden digitale Repräsentation meines Verhaltens in ein neues Regime überführt, vielleicht kann man sagen, zu digitalen Artefakten. Die Konsequenz daraus ist im allermindesten eine fundamentale Intransparenz.

Privatheit und Anonymität im Internet

Wo stehen wir damit? Wenn Privatheit auf bestimmte Formen der Versicherung von Nichtwahrnehmung, Nichtbeobachtbarkeit und Nichtkommunikation angewiesen ist, stellt die Kommunikation im Internet das Phänomen Privatheit unter völlig neue Bedingungen. In gewisser Weise ist Nichtwahrnehmung aufgrund des Fehlens der Körper (außer in bewusst gewählten visuellen Darstellungsformen) stets versichert. Dies aber natürlich in Interaktionspraxen, die mit der wertbezogenen Idee lokaler Privatheit bei Rössler nicht übereinstimmen, während die typischen Regulationsformen, die offline ein Management von Nichtbeobachtbarkeit und Nichtkommunikation garantieren, im weitesten Sinne ausgesetzt sind. 

Dezisionale Privatheit gerät bei öffentlichen Aussagen ohne eingeschränkten Adressatenkreis prinzipiell unter Druck. Die Form der Diskussion erfolgt durch die Logik des Mediums (öffentlich, asynchron, schriftlich, objektiviert, themenzentriert) und durch die Typik der Interaktionssituation (persönlich, körperlos, ahistorisch) oft als inhaltlicher oder wertbezogener Schlagabtausch, der eher kommunikativ entgleitet, als dass er im Rahmen der Interaktionsentwicklung eingefangen werden kann. Die Selbstdarstellung auf Microbloggingdiensten oder auf YouTube kann sich somit nicht auf Normen der Zurückhaltung verlassen, sondern evoziert stetig Rechtfertigungssituationen.

Ähnliches können wir über informationelle Privatheit sagen: Sie braucht die Möglichkeit eines Managements von in sozialen Kontexten bestehenden Erwartungen. Die generelle Beobachtbarkeit von Mitteilungen verunmöglicht oder erschwert ihre kontextspezifische Zuspitzung (man denke an das persönliche Netzwerk in Facebook und wie die Ausweitung des Netzwerks die eigenen Darstellungsmöglichkeiten begrenzt – wenn flüchtig Bekannte, Freunde und die eigene Familie im persönlichen Netzwerk sind, müssen wohl oder übel qua Mitteilung angebotene Informationen in ihrem Sinngehalt verallgemeinert werden, um Konflikte und unangenehme Nachfragen zu vermeiden). Die Speicherung der Mitteilung und der damit einhergehende Kontrollverlust über das Gesagte, führt so zu erwartbaren Konflikten durch das Entgleisen der Sozialdimension der inhaltlichen Aussage (von wem die Nachricht als zu verstehen intendiert war). Anders gesagt: Das Internet ist ein Alptraum für ein im Sinne informationeller Privatheit relevantes Erwartungsmanagement.

Die technische Beobachtung, algorithmische Verarbeitung und Aggregation von Nutzerdaten stellt ein weiteres Problem. Einerseits historisiert sie Nutzerverhalten auf eine bestimmte Weise, andererseits entsteht völlige Intransparenz über die Folgen dieser technischen Beobachtung, die sich sowohl in unbewusster Beeinflussung als auch in Kontrollverlust über das Gesagte zeigen können.

Damit wird die Autonomie des Subjekts wesentlich eingeschränkt. Öffentliche Kommunikation im Internet ist prinzipiell riskant, sie multipliziert Rechtfertigungssituationen und ist situativ nicht spezifiziert. Wenn Kommunikation wesentlich über das Internet stattfindet und die Architektur des Internets und der über es realisierten Kommunikationsmedien diese Kommunikation unter Bedingungen setzt, in der klassische Regulationsmechanismen für Privatheit nur eingeschränkt funktionieren, brauchen wir eine Alternative. Die technische Umsetzung von Anonymität bietet eine Möglichkeit auf das Kollabieren von Informationskontexten und folgende Probleme im Erwartungsmanagement zu reagieren: technisch realisiert ist die Kommunikation im Internet stets pseudonym (über die IP-Adresse realisiert) und sozial ermöglicht wird pseudonyme Kommunikation ebenfalls (durch die Struktur verfügbarer Kommunikationsmedien und ihre zugehörigen Nutzungsnormen). Pseudonymität kann als Anonymisierungsstrategie verstanden werden und, mächtige, deanonymisierungsfähige Akteure nicht vorausgesetzt, eine alltägliche Differenzierung von Handlungskontexten versichern und damit kompensatorisch (also fehlende ‚Schutznormen‘ kompensierend) informationelle Privatheit erhalten. Insofern die Verschleierung auf technischer Ebene realisiert ist, könnten auch bestimmte Formen des Trackings verunmöglicht werden. Allerdings schränkt technische Anonymisierung maßgeblich die Ausdrucksmöglichkeiten ein: auch wenn Handlungskontexte different gehalten werden, erfordert Anonymisierung doch Anpassung der eigenen Darstellung. Wenn ich unter einem Pseudonym kommuniziere, aber zuviele biographische oder persönliche Informationen teile, hätte ich auch meinen Klarnamen angeben können. Die notwendige Alternative wird damit bevorzugt nicht nur über eine Technik realisiert, sondern zeigt sich idealerweise auch im Entstehen neuer Normen.

Darknet

Nun können wir uns letztlich der Besprechung von Darknets widmen, spezifisch des Tor-Netzwerks. Darknets realisieren Kommunikation im und unter den Bedingungen des Internets, allerdings sind sie radikal dezentral organisiert und Verunmöglichen die digitale Rückverfolgbarkeit von Teilnehmer:innen durch die Verschleierung der IP-Adresse. Durch ihren Aufbau und ihre Organisation erlauben sie Zensur zu umgehen (durch das Ermöglichen anonymer Dienste und das Aufrufen von Diensten durch Nutzer:innen unter anderen IP-Adressen als der eigenen). Der wesentliche Unterschied in der technischen Realisierung des Tor-Netzwerks zum Internet liegt in der Verschleierung der IP-Adresse von Sender:innen und Empfänger:innen, welche bei jeder Datenübertragung über das Internet im Header jedes Datenpackets im Klartext mitversandt werden. Die IP-Adresse identifiziert Internetanschlüsse eindeutig.

Allerdings können die zugehörigen Haushalte nur unter bestimmten Bedingungen genau identifiziert werden. Staatliche Akteure oder Rechteinhaber können sich bei berechtigten Anfragen an die Betreiber von Internetanschlüssen wenden und über die IP-Adresse und den Zeitpunkt der Datenübertragung rückverfolgen lassen, welcher Internetanschluss unter welcher Hausadresse beteiligt war. Jeder kann bei Kenntnis der IP-Adresse die ungefähre Geolokation des zugehörigen Haushalts identifizieren. Der Staat kann über Internetbetreiber den Zugang zu bestimmten Diensten verunmöglichen (staatliche Zensur), sowie einzelne Dienstbetreiber den Zugang einzelner Nutzer:innen zu ihren Diensten verbieten können (bspw. einzelne User:innen werden aus Chaträumen ausgeschlossen), oder angebotene Inhalte können nach IP-Regionen differenziert werden (Angebote auf Amazon, oder Filme auf Netflix). Genauso können unter Kenntnis der IP-Adresse denial-of-service Angriffe ausgeführt werden. Schließlich ist die IP-Adresse Teil des Trackings in Softwareumgebungen zum Tracking und der Analyse von Nutzerdaten – vermutlich ist sie allerdings ‚nur‘ für die marktwirtschaftliche Differenzierung von Nutzer:innen in Regionen relevant. Sofern für mich zu diesen Zeitpunkt abzusehen ist, sind dies die wesentlichen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf eine IP-Adresse.

Damit verunmöglicht das Tor-Netzwerk wesentlich staatliche Beobachtungsformen. Im Sinne und im Gegensinne von liberal-demokratischen Staaten wird Zensur und die rechtliche Verfolgbarkeit von Handlungen, wenn nicht verunmöglicht so doch wesentlich erschwert. Und es ist so auch nicht verwunderlich, dass sich im öffentlich zugänglichen Teil von Tor hauptsächlich Schwarzmärkte und andere potentiell moralisch oder rechtlich problematische Inhalte finden lassen (siehe die quantitativen Studien aus der Einleitung für empirische Ergebnisse diesbezüglich).

Doch neben solchen Inhalten finden sich auch Kommunikationsräume wie Foren und soziale Netzwerke im Darknet. Und im Kontrast zu den medieneffektiven Ergebnissen, die in Bezug auf das Tor-Netzwerk berichtet werden, wirkt die Kommunikation dort, vor allem im Vergleich mit anonymen Kommunikationsmedien im Clearnet, eher harmlos. Weiterhin besteht in diesen Kommunikationsräumen in Bezug auf ihre Wahrnehmung als anonym, eine bestimmte Haltung zur Einhaltung von Anonymitätsregeln und zum Umgang mit Anonymität. Es ist vielleicht eine solche Norm der Anonymität, die Privatheit schützen und aus der die soziale Antwort auf die neue Kommunikationssituation im Internet erwachsen kann.

Schlussbemerkung

Zum Schluss möchte ich einige vorläufige Anmerkungen zu einer Kultur der Anonymität machen, wie sie Auerbach beschrieben hat. Wie wir gesehen haben, erlaubt Anonymität Handlungsoffenheit. Damit einher geht die Möglichkeit unverantwortlich zu kommunizieren und ein Entgleisen des öffentlichen Diskurses wie es Nagel in „Concealment and Exposure“ als problematisch ermahnt. Andererseits erlaubt sie aber auch kreativen Ausdruck in symmetrischen Kommunikationsbeziehungen. Es ist nicht erstaunlich, dass in einem Medium wie 4Chan, in dem Nutzer per Default anonym sind und Inhalte nur eine kurze Zeit erhalten bleiben, sich eine Gesprächskultur entwickeln konnte, die juvenil und aggressiv, aber auch chaotisch-kreativ ist. Und es ist nicht erstaunlich, dass sich im Rahmen des Mediums als asynchrone, fortlaufende Kommunikation ohne wiederidentifizierbare Sprecher, Mitteilungen etabliert haben die a) ambig und b) gleichzeitig grenzüberschreitend und semiotisch offen sind.

Mehrdeutig sind sie, da jede darauffolgende Mitteilung ein uneingeschränktes Recht hat, die zuvorlaufenden Mitteilungen in ihrem je eigenen Sinne zu verstehen. Grenzüberschreitend sind sie, um Informationswert zu erhalten. Es muss in die Mitteilung ein Grund eingebaut werden, damit auf die Mitteilung reagiert wird. Die Permanenz der Grenzüberschreitung und ihre situative Entbettetheit aus Kontexten, die die eigentliche Bedeutung solcher Grenzüberschreitungen zuvorderst verbürgen könnten, die stetige Wiederholung archetypischer Kommunikationen eingebettet in neue Kommunikationssituationen und die zugrundeliegende für das Internet untypische Ephemeralität, führt notwendigerweise zu einer Verallgemeinerung der Bedeutung interaktiv geschaffener Ausdrucksformen.

Doch im Rahmen dieser unzivilen Kommunikation, wird auch ein ungeheures sprachlich-spielerisches und generell kreatives Potential freigesetzt. In gewisser Hinsicht könnte sie sogar als ziviler als die Kommunikation auf Twitter verstanden werden, denn das Prozessieren der radikalisierten, sprachlichen Formen auf 4Chan, die sich an „Memes“ als Interaktionsprodukten abarbeitet, lässt eindeutig ‚persönliches‘ weitestgehend außen vor. Ich denke, dass man in dieser Kommunikation somit auch durch Anonymität verbürgte Freiheit als gesellschaftlichen Wert wiedererkennen kann. In Bezug auf die Videoüberwachung in England schreibt Rössler:

„(…) (D)ie Gefahr solcher und anderer Überwachungs- und Kontrollmechanismen liegt dann nämlich auch darin, dass Personen, gerade aufgrund einer strukturellen staatlichen oder gesellschaftlichen Geringschätzung des Schutzes informationeller Privatheit, ihre eigene Autonomie und Privatheit als nicht mehr so relevant begreifen“.

Dies ist problematisch vor dem Hintergrund, dass eine liberale Demokratie eben diese Autonomie erfordert. Vielleicht findet sich in Darknets als dezidiert technisch anonymen Netzwerken eine Möglichkeit eine Kultur von Anonymität zu normalisieren, indem sie für eine breitere Nutzung popularisiert wird, anstatt sie ‚abzuschalten‘.

Landwirth, R. (2022). Der Wert des Anonymen. In: Friedewald, M., Kreutzer, M., Hansen, M. (eds) Selbstbestimmung, Privatheit und Datenschutz. DuD-Fachbeiträge. Springer Vieweg, Wiesbaden.

https://doi.org/10.1007/978-3-658-33306-5_6

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